The Nose

„El Cap is pretty cool“

Prof. Dr. Andreas »The Nose« Klocke sitzt der Mont Blanc im Nacken
Chamonix - Anno 1991. Irgendwo zwischen »Flammes de Pierre« und »Österreicherriss« treffen wir – Christoph, Andreas und ich – am Bonattipfeiler auf zwei ausgesprochen unterhaltsame Landsmänner. Einer von ihnen stellt sich mit Donald vor und nicht nur der Name weckt Assoziationen mit der allseits bekannten Comicfigur. Um unsere Nervosität etwas zu überspielen, albern wir herum und geben Anekdoten aus dem harten Alpinistenalltag zum Besten. Unter anderem prahlt Donald, dass sie diese Tour eigentlich nur als Vorbereitung für die berühmte »Nose« am »El Capitan« machen. Wir lachen alle herzlich und klopfen uns imaginär auf die Schenkel – allzu viele Hände haben wir grad nicht frei.
Natürlich hab auch ich schon von dem legendären »Gesichtserker« jenseits des großen Teichs gehört, doch war das frei zugängliche Informationsangebot mangels Internet damals noch überschaubar. Von dem Wenigen sind mir vor allem Bilder von zotteligen Männern im Kopf geblieben, die nach tagelanger Schinderei, ausgetrocknet wie Dörrobst, dafür randvoll mit Dope, am Ausstieg posieren. Das ist ja wohl nur was für total Bekloppte! „A Snowball's Chance in Hell“ hätte Jim Bridwell die Erfolgsaussichten von uns Bigwall-Novizen wahrscheinlich zusammengefasst, was meiner eigenen Einschätzung recht nahe gekommen wäre. Inzwischen sind seit unserem Abenteuer am Bonattipfeiler knapp drei Jahre vergangen, in denen wir natürlich nicht untätig waren, doch haben wir nie wieder ein Wort über die »Nase« verloren. Während einer Mittagspause zwischen Hauptgang und Dessert meint Christoph beiläufig, er habe im September zwei Wochen Zeit, da könne man doch mal ins Yosemite fahren. Wir lachen wieder herzlich und klopfen uns diesmal tatsächlich auf die Schenkel.
Yosemite Valley
Einige Wochen später falten wir uns in einen Billigflieger nach San Francisco mit Zwischenstop in Boston. Kaum gelandet, machen wir uns sofort auf nach Osten ins gelobte Valley. Noch etwas benommen vom Jetlag schleichen wir vorschrifts­mäßig mit 55 mph durch das topfebene Kalifornische Längstal, das an Monotonie die italienische Po-Ebene fast noch toppen kann. Zum Glück erreichen wir noch vor dem endgültigen Wegnicken die ersten Ausläufer der Sierra Nevada und der Blick aus dem Fenster gewinnt wieder an Attraktivität. Ungeduld und Vorfreude steigern sich stetig, bis sich in einer Linkskurve die völlig strukturlose Südwestwand des »El Capitan« scheinbar endlos über uns aufbaut. „Ach du Scheiße!“ Der Anblick haut uns echt aus den Socken. Nachdem wir unsere Gesichtsentgleisungen wieder einigermaßen unter Kontrolle haben, wird uns die Aussichtslosigkeit des gesamten Projekts bewusst und wir beginnen unsere Optionen abzuwägen: Entweder wir machen kehrt und fliegen sofort wieder nach Hause oder wir mischen uns zuvor unter die in der Mehrzahl adipösen Touristen und machen zumindest noch die Sightseeing-Tour durchs Valley. Die Entscheidung fällt schon aus Panik vor den engen Sitzen im Flieger auf Letzteres und wir richten uns auf Camp 4, dem legendären Kletterer-Zeltplatz, ein.
Generalprobe in den ersten Längen der »Salathé Wall«

»It's like swimming«

Nach und nach weicht die Schockstarre und wir gewöhnen uns an die Granitriesen, behaupten sogar erste Unebenheiten in den Wänden erkennen zu können. In den nächsten Tagen cruisen wir im Tal auf und ab, stürzen uns in den einen oder anderen Base-Climb, streichen ehrfürchtig über den ersten Griff von Midnight Lightning (den zweiten erreichen wir nicht) und lernen andere Kletterer kennen, die zum Teil Monate, wenn nicht Jahre oder gleich ihr ganzes Leben hier verbringen. „It's like swimming“ vergleicht einer das Klettern in den Rissen der Nose und krault zur Demonstration mit eleganten Bewegungen durch die Luft. Jetzt würde ich meine Wasserlage eher mit der eines rostigen Bügeleisens vergleichen, aber als stolze Inhaber des Seepferdchens sehen wir dem Ganzen schon wieder optimistischer entgegen. Wir beschließen, doch einen Versuch zu wagen und beginnen unser ohnehin schon umfangreiches Klettergeraffel durch bigwallspezifisches Equipment zu ergänzen. Getreu dem Motto „Wenn wir es uns nicht leisten können, kann's der Mittelstand erst recht nicht“, missachten wir unsere – vor allem meine – finanziellen Möglichkeiten und sammeln fleißig Treuepunkte im örtlichen Klettershop.
Christoph demonstriert die Gegendrucktechnik »à la Piaz« in Perfektion
Der Zeitplan ist eng und so müssen wir schon nach wenigen Tagen alles auf eine Karte setzen. Zum besseren Verständnis mache ich einen kleinen Exkurs zum Bigwall-Klettern, speziell zu unserer Vorgehensweise. Die Tour folgt einem fast durchgängigen Risssystem und muss weitgehend selbstständig mit allerlei Klemmgerät abgesichert werden.
Der Vorsteiger kraxelt – behangen wie ein überladener Christbaum – mit einem Seil zur Sicherung hoch und zieht ein weiteres Seil frei hinter sich her. Am Stand angekommen, fixiert er das Sicherungsseil und der Zweite nimmt daran mit Steigklemmen bewaffnet die Verfolgung auf. Unterwegs sammelt dieser alles, was der Erste mühsam im Riss verkeilt hat, wieder ein (in Fachkreisen »cleaning the pitch« genannt). Dem Vorsteiger wiederum wird die ehrenvolle Aufgabe zuteil, den in unserem Fall anfangs 50 kg schweren Haulbag an dem freien Seil hochzuhieven. Um die Verwirrung perfekt zu machen, baumelt an dem Sack ein weiteres Seil, das vor allem in Quergängen unabdinglich ist. Das Ganze wiederholt sich 34 Mal, wobei jedesmal der Vorsteiger wechselt.
Recherchen zufolge ist es üblich, im Vorfeld einer Begehung den Haulbag auf Sickle Ledge, einem sichelförmigen Band in etwa 170 Metern Höhe, zu deponieren. Damit spart man sich am ersten Klettertag vier Seillängen, die dann bereits im Dunkeln an Fixseilen erklommen werden können. Und tatsächlich finden wir im Kletterführer den Eintrag "4 ropes fix to ground". Gewissenhaft packen wir unsere sieben Sachen und schleppen den Haulbag die wenigen Meter von der Strasse zum Wandfuß, in freudiger Erwartung, hier die versprochenen Fixseile vorzufinden. Bereits nach kurzem Umherirren geht uns ein Licht auf: Die Jümarpiste wird keineswegs vom Fremdenverkehrsverband gesponsert, dafür muss schon jede Seilschaft selber sorgen.
Ein kleiner Dämpfer, aber fast ohne Zetern machen wir uns ans Werk und nehmen die ersten vier Seillängen in oben beschriebener Art und Weise in Angriff. Christoph startet in die erste Länge, die mit 5.10d (VII+) schon recht knackig ist. Zumindest kann man bei den vorherrschenden Temperaturen nicht von einem Kaltstart reden. Ohne größere mir bekannte Probleme oben angekommen, baut er vorschriftsmäßig einen Flaschenzug zum Nachziehen des Haulbags und wir erleben den nächsten Dämpfer.
»El Capitan« in voller Größe
Obwohl Christoph vor Anstrengung bereits die Augen aus den dafür vorgesehenen Höhlen quellen, ruckelt der Sack nur millimeterweise aufwärts. Wenn wir das so knappe tausend Meter durchziehen sollen, sind wir rein rechnerisch bis weit nach Weihnachten beschäftigt.
Der folgende Riss ist noch etwas schwerer. Vom kleinsten handelsüblichen Friend (Größe Null) kann ich gerade mal zwei Segmente im Riss unterbringen, die anderen beiden genießen die frische kalifornische Luft. Trotzdem hab ich noch immer den Ehrgeiz die Stelle frei zu klettern – oder mir fehlt einfach jede Idee, wie ich weitere Mogelhilfen auf den nächsten Metern unterbringen soll. Wie könnte es anders sein, haut's mich beim Legen der nächsten Sicherung geschätzte acht Meter runter, aber zum Glück hält in dem bombenfesten Granit auch der "halbe Luftanker". Einerseits ein weiterer Dämpfer, andererseits steigt mein Vertrauen in die Klemmgeräte. Der nächste Versuch klappt, doch ergeht es mir beim Nachziehen unserer Vorräte keinen Deut besser. Mit jedem quälenden Millimeter schwindet unsere Zuversicht.
Am nächsten Stand hat Christoph eine bahnbrechende Idee. Anstatt sich mit dem Flaschenzug abzumühen, lässt er einfach einige Meter Schlupf im Seil, springt in Selbiges und nutzt die Gesetze der Schwerkraft, um den Sack hochzuziehen. Anschließend steigt er mit den Klemmen wieder hoch und wiederholt den Vorgang. Ich staune, mit welcher Geschwindigkeit der Haulbag auf einmal nach oben schnellt. Damit sind wir wieder im Rennen und können es kaum erwarten, der Welt Christoph's Erfindung zu offenbaren. Beim Studium der einschlägigen Literatur müssen wir später allerdings feststellen, dass unter der Überschrift »Body Hauling« genau diese Vorgehensweise detailliert beschrieben wird. Egal! Für uns bedeutet es den Durchbruch und wenig später erreichen wir euphorisiert Sickle Ledge, wo wir unseren Klotz am Bein für heute endlich loswerden.

»El Cap is pretty cool«

Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, dass wir insgesamt drei Stricke mitführen, aber vier Längen hochgeklettert sind, die wir nun mit Fixseilen ausstatten müssen. Selbst mir, dem erwiesenermaßen weltschlechtestem Kopfrechner, fällt es jetzt wie Schuppen aus den damals noch vorhandenen Haaren: Das wird knapp. Das Stimmungs­barometer fällt schlagartig ins Bodenlose. Wie jetzt, war alles umsonst?
Während wir uns ratlos anstarren, hören wir von irgendwoher Stimmen. Kurz danach stehen Lynn Hill und Brooke Sandahl vor uns, die ihre 24-Stunden-Rotpunkt-Begehung vorbereiten. Wir berichten von unserem Missgeschick, worauf Brooke uns ohne viel Aufhebens ein Seil überreicht mit den Worten: „No problem, just drop it when you're up. El Cap is pretty cool!“ Jetzt starren wir ihn an. Als wir endlich die Sprache wiedergefunden haben, können wir ihnen nur noch unseren Dank hinterherrufen und viel Erfolg für ihr Projekt wünschen.
»Great Roof« (weiter links ist eine Seilschaft mit Portaledge unterwegs)
Wir gönnen uns noch einen Ruhetag, den wir vor allem für das Feintuning unseres Jümar-Setups nutzen. Neben den klettertechnischen Schwierigkeiten, die jeder nach Belieben und Können bis zum unteren zehnten Grad steigern kann, spielen natürlich haufenweise Glück und – nennen wir es mal – »die Logistik« eine entscheidende Rolle für den Erfolg. Jeder der mal einen Gordischen Knoten am Stand lösen oder an einem frei schwingenden Seil aufsteigen musste, weiß was ich meine und wieviel Zeit dabei draufgehen kann. Das hat schon deutlich besseren »Movern« in dieser Tour das Genick gebrochen.
Die Abkürzung (grün) von Sickle Ledge zu den Stoveleg Cracks
Ohne Riss geht hier nix
Zeitig machen wir uns mit »Hirnbirn« an den fixierten Seilen auf zu unserem Haulbag. Als wir das geliehene Seil wie vereinbart fallen lassen, lauschen wir dankbar ins Dunkel, wie es trommelnd unten aufschlägt. Über uns flackern die Lichter einer weiteren Seilschaft, die wohl auf Sickle Ledge biwakiert hat und wir sind fast schon empört, dass wir den »Cap« nicht ganz für uns allein haben. Mir ist vollkommen klar, dass ich damit wahrscheinlich den Neid der meisten neuzeitlichen Begeher auf mich ziehe, die sich ergeben in die Perlenkette der Aspiranten einreihen müssen. Aber so war's halt!
Von Sickle Ledge gilt es zunächst in die weiter rechts gelegenen »Stoveleg Cracks« zu gelangen, was die Erstbegeher mit zwei Pendelquergängen bewerkstelligt haben. Eine Variante verbindet die beiden Risse mit einem Plattenschleicher, den wir natürlich furchtlos in Angriff nehmen. Recht zügig kann Christoph den Shortcut hinter sich bringen, wodurch wir jede Menge Zeit sparen und ganz nebenbei die Poleposition übernehmen, da die andere Seilschaft noch in der Originalroute beschäftigt ist.
Es läuft und inzwischen rechnen wir uns echte Chancen aus. Damit steigt aber auch der Erfolgsdruck und ohne es zu wollen oder zu bemerken, erteile ich aus Nervosität nur noch Befehle in nahezu militärischem Ton. Irgendwann wird es Christoph zu bunt und ich kassiere einen gehörigen Anschiß. Gut so! Nach der Ansage löst sich meine Anspannung etwas und wir können uns wieder auf das Wesentliche konzentriern: »El Cap is pretty cool!«

»No Pro«

Eine der nächsten Längen ist im Topo mit den harmlos wirkenden Buchstaben »ow« gekennzeichnet. Offwidth! Laut Definition ist ein Offwidthriss zu breit für einen ordentlichen Hand- oder Faustklemmer, aber zu schmal, um sich mit dem gesamten Körper in den Riss zu retten. Besonders der in Rissen eher unerfahrene Europäer wird sich hier mehr oder weniger elegant hochwürgen, wobei die Betonung eindeutig auf "weniger" liegt.
Schon am Lagerfeuer auf Camp 4 wurden wir auf diese Stelle aufmerksam gemacht, mit der Empfehlung, sie einfach zu »piazen«. Im amerikanischen Fachchinesisch recht treffend mit »layback« umschrieben, lehnt man sich bei dieser Technik nach hinten und tänzelt den Riss mittels Gegendruck von Händen und Füßen hoch. Einem Mantra gleich machen immer wieder die Worte "No Pro" die Runde, untermalt von einem diabolischen Gelächter. Insgeheim baue ich auf mein Losglück, nämlich dass ich Christoph bei dem Manöver in Ruhe von unten zusehen darf und ergänze "No Pro" kurzerhand mit "blem". Es kommt natürlich anders. Zunächst noch in „angenehmer Handbreite“ wird der Riss immer weiter, um dann – zu groß für unsere Klemmgerätschaft – mit einem ordentlichen Runout zu enden. Damit wäre die wahre Bedeutung des Mantras geklärt: No Protection! »Layback? Am Arsch!« Anstatt mich hinaus zu lehnen, um mich irgendwann mit aufgepumpten Unterarmen aus dem Gemäuer zu katapultieren, orientiere ich mich lieber ins Erdinnere. Mit ausgestrecktem Arm presse ich die rechte Backe an den Fels und stochere blind mit einem Mini-Friend in dem Granitspalt herum. Tatsächlich finde ich einen Riss im Riss, an dem ich mich mühsam hochbasteln kann und erreiche schweißgebadet, aber erleichtert den nächsten Stand. Feigheit siegt!
»Käpt'n Knieper« auf dem »El Cap Tower«

El Cap Tower

Noch vor der Dämmerung erreichen wir »El Cap Tower«, den wohl komfortabelsten Biwakplatz der gesamten Route. Wir haben sogar noch Zeit den glatten Kamin hinter Texas Flake hochzuschruppen, bevor wir uns auf dem topfebenen Absatz breit machen. Selbst die warme amerikanische Dosenplörre, die wir in bescheidenen Mengen mitführen, schmeckt hier hervorragend und folgerichtig sind unsere Biervorräte bald erschöpft. Ein paar Liter mehr im Gepäck würden sicher nicht weiter auffallen, nur so als Tip für etwaige Nachahmer.
Nach einer beinahe gemütlichen Nacht beginnt der neue Tag mit einem Nahtod-Erlebnis. Noch im Morgengrauen rauschen zwei kühlschrankgrosse Blöcke mit einigem Getöse direkt auf uns zu und ich bin sicher, dass unser letztes Stündchen geschlagen hat. Da die Flucht­möglichkeiten begrenzt sind, ergeben wir uns wortlos unserem Schicksal, doch bevor die unbekannten Flugobjekte auf unserem Vorsprung einschlagen, werden sie abrupt von Fallschirmen gebremst und trudeln an uns vorbei. Es dauert fast bis zur Landung auf den etwa 500 Meter unter uns liegenden Wiesen, bis ich begriffen habe, was da gerade passiert ist: Um möglichst viele unbescholtene Kletterer zu erschrecken – eventuell auch, um den Parkrangern und den damit verbundenen Sanktionen zu entgehen – stürzen sich auch heute noch die meisten Base-Jumper in den frühen Morgenstunden widerrechtlich vom Gipfel des Cap. Wir beobachten noch etwas verwirrt, wie die Adrenalinjunkies ihre Schirme hastig zusammenraffen und schleunigst das Weite suchen, als wir auch schon Seilkommandos der nachfolgenden Seilschaft vernehmen: „Franzelll – Save!“ Widerwillig winden wir uns aus den Schlafsäcken und können grad noch die Führungsposition behaupten. Wie wir wenig später erfahren, werden wir von einem bayerisch-schwedischen Gespann verfolgt, das kurz vor Franzl's sechzigstem Geburtstag noch mal was „richtig Wuides“ machen will. Herzlichen Glückwunsch! Jetzt zahlt sich aus, dass wir die nächste Seillänge bereits am Vortag fixiert haben, so halten wir wenigstens nicht den Verkehr auf.
»King Swing«. In Bildmitte die »Stiefelschuppe«.

King Swing

Der »King Swing« ist durchaus spektakulär, aber bei weitem nicht so dramatisch, wie er oft dargestellt wird – rückblickend eine eher spaßige Angelegenheit. Von bereits erwähnter Texas Flake führt eine Bohrhakenleiter zu einer riesigen stiefelförmigen Schuppe, an deren rechten Seite man erstmal »hochmachen« muss. Oben angekommen, lässt Christoph mich fast die gesamte Seillänge wieder ab. Dann beginne ich hin- und herzupendeln, bis ich in vollem Galopp und laut johlend die glatte Wand entlang renne mit dem Begehr, den Riss auf der linken Seite zu erreichen. Fast schon enttäuscht, dass ich diesen schon beim zweiten oder dritten Versuch zu packen kriege, verzichte ich dennoch darauf, ihn wieder loszulassen. Um Seilreibung zu vermeiden empfiehlt sich, von Zwischensicherungen auf den letzten Metern zum Stand abzusehen, was das breite Grinsen im Gesicht dann doch wieder vertreibt.

Great Roof

In den nächsten Seillängen schwimmen wir, teilweise im eigenen Schweiß, weiter vor uns hin. Obwohl wir immer routinierter werden, gibt es für uns in der gesamten Route keine einzige wirklich leichte Passage, aber natürlich bleiben einige Stellen in besonderer Erinnerung. Eines dieser Highlights ist »Great Roof«, das schon aus der Ferne auffällige große Dach. Kein Tritt weit und breit auf der glatten Platte und in den dünnen Riss unter dem Dach würden meine Wurstfinger nicht mal ansatzweise passen. Keine Ahnung, wie das frei gehen soll. In technischer Kletterei ist die Dachquerung allerdings gar nicht so problematisch, zumal in der Mitte sogar ein mit dem Fels eins gewordener Fixkeil steckt.
Regensicher: Franzl unter dem großen Dach.
Great Roof
Viel zeitraubender gestaltet sich der Weg dorthin. Da in den recht einschüchternden Riss mutmaßlich nur mittlere Friends passen, versuche ich gut mit ihnen zu haushalten und lasse möglichst wenige stecken, damit sie mir weiter oben nicht ausgehen. Sehr wahrscheinlich deckt sich mein Zeitempfinden nicht unbedingt mit dem meiner Beobachter, ich jedenfalls habe das Gefühl, die Seillänge recht zügig und in angemessener Zeit hinter mich gebracht zu haben. Stolz wie Oskar mache ich es mir auf meinem Logenplatz bequem und freue mich diebisch darauf zu beobachten, wie die nachfolgende Seilschaft, die längst aufgeschlossen hat(!), das Problem angeht. Doch noch bevor ich mir Chips und Popcorn zurechtlegen kann, sehe ich wie Ole mit zwei simplen Metallwinkeln (Cam Hooks) scheinbar mühelos den Riss hochmarschiert und mich kurz danach lässig unter dem Dach hängend angrinst. Alter Schwede, die Dinger will ich auch!

»Morgenstund hat Blei im Arsch«

Camp 5 ist nicht unbedingt als Upgrade zu unserem Zeltplatz im Tal zu verstehen. Anders als in der Nacht zuvor, gibt es hier einige kleinere Schlafplätze, die dafür aber leicht abschüssig sind. Regelmäßig erwache ich aus meinem inzwischen dringend benötigten Schönheitsschlaf, weil ich mit dem Schlafsack immer wieder über die Kante rutsche und die Füsse ungemütlich über dem Talgrund baumeln. Christoph wird`s nicht viel anders ergangen sein und entsprechend verknittert wachen wir morgens auf. Zum Frühstück gibt`s eine der heikelsten Technolängen, mit der sich Christoph herumschlagen darf. »Morgenstund hat Blei im Arsch!« Während ich mir in aller Ruhe die Falten aus dem Gesicht bügele, vertiefen sich Christoph`s eher, aber spätestens nachdem er mit einem der windigen Keile runtergepoltert ist, bin auch ich hellwach. Mit viel Geschick und noch mehr Adrenalin erreicht er dann doch »Glowering Spot« und wir haben keinen Anlass mehr finster zu blicken ("to glower" bedeutet übrigens "finster blicken", was mir Google gerade verraten hat). Angeblich wurde hier einer der Erstbegeher von einem herabfallenden Haken getroffen, was dieser wohl mit einem nicht sehr heiteren Blick quittierte.
Changing Corners (frei 5.13b bzw. X-)

Changing Corners

Neben Great Roof ist Changing Corners bei einer freien Begehung die mit Abstand schwierigste Seillänge. Der Name ist leicht erklärt. Zunächst folgt man einige Meter dem linken Riss, um dann über eine arschglatte Platte in die rechte Rissverschneidung zu wechseln. Mitten auf der Platte blitzt ein Bohrhaken, zu der Zeit noch eine echte Rarität, und folgerichtig erwarte ich dort die Schlüsselstelle. Der linke Riss lässt sich erstaunlich gut klettern und auch den Bohrhaken kann ich ohne größere Probleme einhängen. Auf einem Microtritt zittere ich mich todesmutig (der Bohrhaken bleibt etwa auf Bauchnabelniveau) an die Kante auf der rechten Seite. Zwar habe ich mir bei dem Move die Brustwarzen etwas aufgescheuert, doch im Glauben das Schwierigste hinter mich gebracht zu haben, klopfe ich mir in Gedanken selber auf die Schultern: „Meine Fresse, bin ich gut! Die Amis können halt nur Risse!“ Nachdem sich der Nebel meiner Selbst­beweih­räucherung wieder gelichtet hat, schweift mein Blick nach oben in den bis dahin verdeckten Riss und ich erwache jäh aus meinem Tagtraum. Jetzt geht's definitiv erst richtig los! Ein dünner, teilweise geschlossener Riss zieht die Verschneidung hoch und ich wünsche mir sehnlichst Ole's Metallwinkel herbei. Ohne diese folgt ein ziemlich nervenaufreibender Eiertanz, bis sich der Riss teilt und endlich etwas dankbarer wird.
Das obligatorische Posen am Ausstieg
Am Stand angekommen wird uns bewußt, dass wir damit wohl das letzte große Fragezeichen der Tour geknackt haben.
Mit einem Gefühlsmix aus Anspannung und Vorfreude, vielleicht vergleichbar mit einem Matchball bei haushoher Führung, klettern wir voll konzentriert weiter, bis es in der Bohr­haken­leiter der letzten Seillänge aus uns herausplatzt und wir lauthals »La Paloma« grölen.
Erstmals seit dem Einstieg legt sich der Fels auf weniger als 89° zurück und dann – nach ungefähr zweieinhalb Tagen in der Wand – posieren auch wir, nicht ganz so zottelig und ausgetrocknet, dafür randvoll körpereigener Drogen, am Ausstieg der Nose. Wahnsinn! Ein unbe­schreib­liches Gefühl, das auch heute noch nachwirkt, mehr als ein viertel Jahrhundert danach. Und das alles inspiriert durch eine übermütige Blödelei (Danke, Donald!) und möglich durch einen perfekten Partner: Danke, Christoph!
Camp 5
Anders als in der Nacht zuvor, sind die Schlafplätze hier etwas abschüssig. Aber sollte etwas runterfallen, findet man es sicher direkt am Einstieg wieder.
Ehrfürchtig
Auch die einheimische Fauna
scheint sich vor dem »Capitan«
zu verneigen.
Intimsphäre?
Drauf geschissen! Hier bist du lauernden Paparazzi jederzeit wehrlos ausgeliefert.
Cleaning the pitch
Auf dem Weg zu »Glowering Spot« gibt´s einiges zu bereinigen.
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