Der Bayerische Traum

Wetterstein / Schüsselkarspitze (2.536m)

Black Diamonds are a dörk´s best friend (Foto: Andi Richter)
Knapp zehn Meter über der letzten Zwischensicherung versuche ich mit der rechten Hand eine Reepschnur durch das etwa zwei Millimeter große Loch zu popeln. Die Erfolgsaussichten sind gering, doch die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Nur wenige Minuten später stelle ich erstaunt fest, dass wirklich jeder meiner Finger den geforderten Durchmesser übersteigt. Die Finger der linken Hand zu überprüfen scheint mir überflüssig. Also wende ich mich wieder der Realität zu.
Das wohl bekannteste oberste zehnte Gebot von Paul Preuß mahnt den Kletterer nur dort hochzusteigen, wo er ruhigen Gewissens auch wieder abklettern kann. Klugscheißer! Vorsichtig schiele ich nach unten, doch entdecke nur auf Andi´s Stirn in großen, wenn auch von Kälte etwas zittrigen Lettern, die Worte: GIB GAS, ALTER!
Aber von Anfang! Im Gedenken an die Deutsche Einheit haben Andi (Ur-Bayer) und ich (Exilpreuße) am 3. Oktober den „Bayerischen Traum“ an der Schüsselkarspitze ins Visier genommen. Die Umstände sind denkbar günstig: Nach einer mehrwöchigen Anti(zecken)biotikakur ohne Tageslicht im Conrad-Keller, tappen wir mit bester Laune sowie Wetterprognose in der Tasche die gut 1000 Höhenmeter zum Einstieg. Der Nebel, der während des Aufstiegs noch willkommene Abkühlung bringt, wird immer dichter. Kurz bevor wir mit der Nase vor den Wandfuß prallen, gewährt uns die Nebelsuppe einen kurzen Blick auf unser
Auch Andi hat die Schuppe hinter sich
Tagesziel. Auch wenn die Südwand mit ihren maximal 400 Metern nicht besonders hoch ist, beeindruckt sie doch durch ihre steilen und kompakten Fluchten.
Nach den bereits erwähnten kraft- und nervenzehrenden ersten Metern, schöpfen wir in den folgenden Seillängen neue Hoffnung. Mit einer schnellen Rechts-Links-Kombination nähern wir uns unaufhaltsam der gefürchteten Piazschuppe, in der nicht ein einziger Feigheitshaken blinkt. Beim Anblick des etwa fünfundvierzig Meter langen Risses kommt mir spontan die Geschäftsidee für eine Rent-a-Friend-Station, für Übergrößen natürlich. Mit etwas gedämpftem Eifer lege ich los und merke schon nach wenigen Zügen, dass mir die immer noch kalten Unterarme zulaufen. Scheiß Nebel! Da ich aber dank banger Vorraussicht den Luxus gleich zweier passender Klemmgeräte genieße, entferne ich jeweils das untere, um es unmittelbar über dem anderen wieder zu verkeilen. So gewinne ich schnell an Höhe. Abgesehen von dem Tausendfüßler, der beim Überholvorgang beinahe auf meinen Schweiß­absonderungen ins Schleudern gerät, gibt es keine nennenswerten Vorkommnisse.
Auch die nächste Seillänge ist durchaus fordernd, so dass wir „etwas flügellahm in der Nische vor der offiziellen Schlüsselstelle kauern“. Zwar hangel ich noch an den zunächst reichlich vorhandenen Bohrhaken über die ersten Meter, doch als diese wieder spärlicher, die Griffe allerdings nicht üppiger werden, reift der Entschluss zum Rückzug. Beim Abseilen muss Andi noch eine Träne der Enttäuschung unterdrücken, doch mit etwas Abstand wird auch ihm ein erlebnis- und somit erfolgreicher Klettertag in Erinnerung bleiben.

„Gar keine Frage, Anderl!“